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Ein Hilferuf aus der Küche – Das Thema mentale Gesundheit gehört endlich auf den Tisch

Viel Druck, wenig Anerkennung und eine harte Arbeitskultur – all das prägt das Bild der Gastronomie. Dabei spielte die Frage nach der mentalen Gesundheit derer, die in dieser Branche arbeiten, lange eine untergeordnete Rolle. Zeit, das Schweigen zu brechen! Ein Gespräch mit der Fernsehköchin Pia-Engel Nixon und der Expertin für mentale Gesundheit, Mareike Bruns, gibt Einblicke in die Zustände in der Branche und zeigt Ideen für ein Umdenken auf.
dima_sidelnikov, iStockphoto

Die Gastronomie: Eine Szene mit hohem Druck

Pia Engel-Nixon, selbstständige Köchin mit einer Karriere in Australien und Deutschland, erinnert sich an ihre Zeit als Leiterin eines Restaurants im Golfclub: „Sehr stressig – ich hatte die Leitung mit 20 Mitarbeitenden, war nie richtig frei, konnte nie abschalten. Schlafstörungen, hohe Anspannung und ständige Erreichbarkeit waren die Regel.“

Dieser Druck sei nicht ungewöhnlich in der Gastronomie laut Engel-Nixon. Oft ist die Arbeit mit niedrigen Löhnen, langen Arbeitszeiten und kaum Ruhepausen verbunden. Überstunden sind oft die Regel, nicht die Ausnahme. All das birgt Risiken für die mentale Gesundheit der Beschäftigten.

Derzeit steckt die Gastronomie in der Multikrise: Während ihre inflationsgebeutelte Kundschaft seltener kommt und weniger ausgibt, die Ausgaben gleichermaßen steigen und das Personal fehlt – hat die Pandemie, wie in vielen Bereichen, das seit Jahren und Jahrzehnten schwelende Problem der unmenschlichen Arbeitsbedingungen stärker denn je in den Vordergrund gerückt. Anthony Bourdains Selbstmord 2018 war wie ein Paukenschlag für die Szene, jedoch nur die Spitze des Eisbergs. Ob national Tim Mälzer, Tim Raue, oder international jüngst René Redzepi: Die prominenten Beispiele zeigen die Herausforderungen des Systems Gastronomie, an denen sich die bekannten Figuren gleichzeitig aufreiben und den Druck nach unten weitergeben. Am anderen Ende stehen ebenso gebeutelte Arbeitnehmer:innen in Fast Food Franchises und dazwischen der „ganz normale“ Arbeitsalltag in praktisch jeder durchschnittlichen Küche.

2022 arbeiteten 11,8 Prozent weniger Menschen in der Gastronomie als 2019. Zu diesem Umstand tragen viele Faktoren bei, ein entscheidender dürfte allerdings das Thema Gesundheit sein. War die Situation vorher schon reformbedürftig, taten die Lockdowns und effektiven Berufsverbote ihr Übriges. Die Branche ist sowohl für Berufserfahrene, als auch für Einsteiger:innen unattraktiv geworden und die Alternativen in einem arbeitnehmerzentrierten Arbeitsmarkt zahlreich.

Mentale Gesundheit in der Gastronomie: Ein häufig übersehenes Thema

Die Folgen dieser Arbeitsbedingungen können gravierend sein. „Viele Köche in der Branche greifen zu Alkohol und Drogen, um runterzukommen“, sagt Engel-Nixon. „Es gibt eine hohe körperliche Belastung, schlechte Ernährung und wenig Privatleben. Das Risiko für mentale Krankheiten wie Depressionen ist hoch.“

In der Branche wird dieses Thema jedoch oft nicht ausreichend beachtet. „Es wird nicht darüber geredet – keine Schwäche zeigen, alle anderen machen mit“, so Engel-Nixon. Dabei ist es wichtig, dass eine stärkere Sensibilisierung für die mentalen Herausforderungen in der Gastronomie stattfindet.

Die junge Generation und die Hoffnung auf Veränderung

Es gibt jedoch Hoffnung für die Zukunft. Die junge Generation ist sensibler für das Thema mentale Gesundheit und setzt sich für eine bessere Work-Life-Balance ein. Auch die Corona-Pandemie hat zu einem Umdenken geführt, viele Köche haben sich beruflich umorientiert oder nach Alternativen gesucht.

Frank Rosin, ein Kollege von Engel-Nixon, ist ein gutes Beispiel für diese Entwicklung. Er hat feste Ruhetage eingeführt und sorgt für genügend Auszeiten für sein Personal. Ein Ansatz, der zeigt, dass Veränderung möglich ist.

Die Rolle von Arbeitgebern und die Notwendigkeit für Veränderung

Mareike Bruns, Expertin für mentale Gesundheit, sieht alle Stakeholder in der Pflicht: „Wie bei der Care Arbeit bzw. Pflege auch, brauchen wir gesellschaftlich ein stärkeres Bewusstsein für die Arbeitsbedingungen in der Gastronomie. Gleichzeitig wären Standards und Label wünschenswert, die Verbraucher:innen bewusste Entscheidungen möglich machen.  Auf der anderen Seite bedarf es einer stärkeren Auseinandersetzung mit dem Thema Gesundheit, insbesondere der mentalen – ansonsten droht der Branche ein fortgesetzter Exodus.“

Dabei ist es wichtig, dass Arbeitgeber nicht nur die physische, sondern auch die mentale Gesundheit ihrer Mitarbeiter im Blick haben. Dies schließt ein Klima der sogenannten „psychologischen Sicherheit“ ebenso ein wie Maßnahmen zur Prävention von psychischen Erkrankungen. Psychologische Sicherheit beschreibt den Zustand, in dem Mitarbeitende offen über Herausforderungen sprechen können, ohne negative Konsequenzen fürchten zu müssen.

Hier sind einige mögliche Lösungsansätze, um eine gesündere Arbeitskultur in der Gastronomie zu fördern:

Was Arbeitgeber tun können:

  • Fürsorgepflicht wahrnehmen: Mit fairen Arbeitsbedingungen kannst du deine Belegschaft langfristig binden.
  • Feste Pausenzeiten in den Dienstplan aufnehmen: Ruhepausen sind entscheidend, um mentale und körperliche Gesundheit zu regenerieren. Pläne sollten entsprechend gestaltet werden.
  • Zwei feste Ruhetage pro Woche einführen: Zeit zum Abschalten ist wichtig, um erneut motiviert zur Arbeit zurückzukehren.
  • Angemessene Urlaubszeiten gewährleisten: Die Belegschaft sollte während Hochsaisonzeiten durch zusätzliche Aushilfskräfte unterstützt werden.
  • Schichtzeiten kürzen: Flexiblere Arbeitszeitmodelle können zur Mitarbeiterzufriedenheit beitragen.
  • Mitarbeiter in Entscheidungen einbeziehen: Frage dein Team, was sie sich wünschen und wie sie arbeiten möchten.

Was Arbeitnehmer:innen tun können:

  • Kollegiale Zusammenarbeit fördern: Gemeinsam lassen sich Missstände besser ansprechen und Lösungsvorschläge erarbeiten.
  • Grenzen kommunizieren: Mach deutlich, wenn Überstunden zu viel werden und ein Burnout droht.

Zusätzlich können durch niedrigschwellige Gesprächsangebote Warnzeichen frühzeitig erkannt und proaktive Lösungen gefunden werden. Und last but not least: Mach deinen Kunden klar, dass du auf faire Arbeitsbedingungen und eine gute Work-Life-Balance achtest. So kann jeder Teil der Lösung sein und zur Förderung einer gesunden Gastronomiekultur beitragen.

Die Zukunft der Gastronomie: Ein Plädoyer für mehr Menschlichkeit

Die Gastronomie steht vor großen Herausforderungen. Neben der Bewältigung der Folgen der Corona-Pandemie gilt es, einen Kulturwandel anzustoßen. Ein Wandel, der die Bedeutung der mentalen Gesundheit anerkennt und dafür sorgt, dass die Arbeit in der Gastronomie nicht auf Kosten des Wohlbefindens der Beschäftigten geht.

Dieser Wandel sollte auch die Rollenbilder in der Branche infrage stellen. Wie Engel-Nixon aus eigener Erfahrung weiß, sind Frauen in der Gastronomie oft besonders stark gefordert. „Die Kochwelt ist männerdominiert.  Als Frau muss man sich oft zwischen Arbeit und Familie entscheiden. Viele Kolleg:innen sind Single, weil sie keinen Partner finden, der diesen Lebensstil mitmachen möchte.“

Es geht hierbei nicht nur um individuelle Entscheidungen. Es geht um strukturelle Veränderungen, die eine bessere Balance zwischen Beruf und Privatleben ermöglichen. Engel-Nixon hat ihre eigene Balance gefunden: Nach der Diagnose ihrer Mutter mit Krebs und dem Ausbruch der Corona-Pandemie hat sie sich dazu entschlossen, ihr Arbeitspensum zu reduzieren und sich mehr um ihre Familie zu kümmern. „Ich bin dankbar und bescheiden“, sagt sie. „Ich habe erkannt, dass ich das Leben genießen sollte.“

Ihr persönlicher Weg kann als Inspiration dienen. Doch es bedarf mehr als individueller Lösungen, um die mentale Gesundheit in der Gastronomie zu verbessern. Es bedarf eines Umdenkens auf allen Ebenen – von den Arbeitgebern über die Politik bis hin zu den Konsumenten.

Die Gastronomie ist eine leidenschaftliche Branche, die auf Herzblut und Hingabe angewiesen ist. Es ist an der Zeit, dass diese Leidenschaft auch den Menschen gilt, die sie mit Leben füllen. Nur so kann die Gastronomie eine gesunde und nachhaltige Zukunft haben. Und nur so können wir sicherstellen, dass die Menschen, die uns mit ihrem kulinarischen Können erfreuen, auch selbst ein erfülltes und gesundes Leben führen können.

Über Pia-Engel Nixon

Pia-Engel Nixon, geboren 1978 in Herne, ist eine erfolgreiche Köchin und Medienpersönlichkeit. Aufgewachsen in einer Drei-Generationen-Familie, mit einer Mutter, die gerne exotische Gerichte kochte, entwickelte sie eine Leidenschaft für das Kochen. Nach einem Grafikdesignstudium in Sydney, wo sie ihre Kochfähigkeiten ausbaute und in der Gastronomie arbeitete, kehrte sie in ihre Heimat Deutschland zurück. Sie gründete ihr erstes eigenständiges Unternehmen „Engel’s Küche“ und betrieb von 2016 bis 2018 ihr eigenes Restaurant„Restaurant NIXON“. Sie erlangte breite Bekanntheit durch ihre Zusammenarbeit mit dem Sternekoch Frank Rosin und ihre Auftritte in der Fernsehsendung „Gekauft, gekocht, gewonnen“. Pia-Engel Nixon ist Mutter von zwei Töchtern und bringt ihr facettenreiches Leben als Köchin, Unternehmerin und Mutter unter dem Motto „Ein großer Teller ‚Buntes’“ in Einklang.

Über Mareike Bruns

Mareike Bruns ist zertifizierte Ergotherapeutin und beim Mental-Health-Startup Auntie tätig. Während sie als Therapeutin in ihrem früheren Beruf Menschen erst behandelt hat, als diese schon diagnostizierbar waren, unterstützte sie als eine von über 120 Auntie Professionals die psychische Gesundheit von Mitarbeitenden in Unternehmen und setzt sich jetzt als Teil von Aunties Kernorganisation und Mental Health Specialist weiter für ein ganzheitliches betriebliches Gesundheitsmanagement ein.

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